Vor zwanzig Jahren nimmt sich Esther Winther, ein 17-jähriges Mädchen aus dem Münchner Mittelstand, in einem Park das Leben. Sie erhängt sich, und obwohl an dem Seil unbekannte DNA-Spuren festgestellt werden, gehen alle Beteiligten von einem Selbstmord aus; Auch Jakob Franck, der damalige ermittelnde Kriminalkommissar.
Zwei Jahrzehnte später: Jakob Franck ist mittlerweile pensioniert, doch die Toten aus vergangenen Fällen besuchen ihn noch immer regelmäßig zu Hause. Er lässt es zu, auch wenn die Vergangenheit ihn zu einem einsamen Mann gemacht hat. Dann plötzlich steht Ludwig Winther, der Vater des Mädchens, vor Francks Tür. Er fordert neue Untersuchungen und ist davon überzeugt, dass seine Tochter damals kaltblütig ermordet wurde. Mit ruhiger und unaufgeregter Präzision beginnt Jakob Franck, die Vergangenheit von Esther Winther zu untersuchen und nimmt sich eine Person nach der anderen vor, die sich damals in ihrem Umfeld aufhielten. Es zeichnet sich ein Bild ab von einer eigenwilligen und rätselhaften jungen Frau, die nur wenige Menschen an sich heran ließ, sprachlosen Eltern, unausgesprochenen Konflikten, Schuldzuweisungen, Schweigen und Ratlosigkeit. Was wusste Esther Winthers Mutter, die sich ein Jahr nach dem vermeintlichen Selbstmord ebenfalls das Leben nahm? Basierte Esthers Tod eventuell nur auf einer Lüge? Oder sogar auf einem großen Missverständnis?
Für mich war „Der namenlose Tag“ weniger ein Krimi, sondern mehr ein sehr psychologischer und tiefgründiger Roman, der die Lebenswirklichkeit einer Familie widerspiegelt, die gefangen ist in ihrer festgefahrenen, passiven Ratlosigkeit. Jakob Franck, der pensionierte Kriminalkommissar, ist ein nachdenklicher, zunächst eher unscheinbarer Charakter, der sich von den Geistern der Vergangenheit nicht lösen kann und sich so über die Jahre in eine düstere und einsame Isolation begeben hat. Seine privaten Ermittlungen im Fall Esther Winther erfüllen ihn jedoch mit neuem Leben und lassen hoffen, dass sich der Charakter des Protagonisten in den kommenden Franck-Romanen noch weiterentwickelt. Die Sprache des Textes ist einfach, nüchtern und unaufgeregt. Sie passt sich dem Inhalt der Geschichte an, die lange Zeit vor sich hin plätschert, jedoch gegen Ende intensiver wird. Man merkt, dass Friedrich Ani sein Handwerk beherrscht – kein Wort, kein Satz sind unnötig oder überflüssig. Diese minimalistische Schreibweise, die ihr Ziel nicht verfehlt, zeugt von großem Können, ist jedoch leider persönlich nicht mein Fall.
Die Geschichte hat mich nicht vollends mitgerissen, für einen Krimi kommt die Erzählung meiner Meinung nach zu zögerlich in Gang und braucht lange Zeit, um sich zu verdichten. Jakob Franck stolpert durch verschiedene verwirrende Begegnungen und Gespräche, muss den Zeugen jede Information aus der Nase ziehen. Vieles führt ins Leere. Der/die Leser/in erlebt dies mit, was mitunter etwas anstrengend ist. Die Auflösung am Schluss kommt hingegen fast überraschend.
„Der namenlose Tag“ ist ein stiller, langsamer Kriminalroman, der nachdenklich und melancholisch stimmt. Er baut nicht auf Spannung oder Aktion auf, sondern konzentriert sich statt dessen auf die tragischen und oftmals unerklärbaren Dinge, die das Leben mit sich bringt. Ein Zitat am Ende bringt den Grundtenor des Romans gut auf den Punkt, als Jakob Francks Ex-Frau zu ihrem alten Gefährten sieht und sagt: „Du willst, wie es deinem Beruf entspricht, am Ende immer ein Geständnis haben. Aber manchmal, scheint mir, gibt es nichts zu gestehen, nur zu erkennen.“
Friedrich Ani, „Der namenlose Tag“, Suhrkamp 20,60€
Bild: http://derstandard.at/2000020748317/Friedrich-Ani-Tapetentueren-und-Verliese